Die Hoffnung stirbt zuletzt
17. Mai 2021

Dieter G. Weiss, in4ma Marktforschung & Analysen

Die Europäische Elektronikindustrie ist in Panik. Die Versorgungssituation für diverse Bauteile ist katastrophal. Wie schon in der letzten Allokationskrise 2018 haben viele Einkäufer nichts dazu gelernt und bestellen fleißig doppelt und dreifach in der Hoffnung wenigstens irgendwo etwas zu bekommen. Das Ergebnis sind Bedarfslisten bzw. Bestellungen bei Bauteileherstellern bzw. bei den Bauteilehändlern, die einen viel zu hohen Bedarf anzeigen, als in Wirklichkeit benötigt wird.

Die Bauteilehersteller haben die Situation natürlich ausgenutzt und Preiserhöhungen von 400-500% sind keine Seltenheit mehr (e.g. Leistungs- bzw. Powerelektronik). Bedarfe die vorher von einem Kunden geblockt waren und wieder freigegeben werden steigen plötzlich massiv im Preis, so als wenn automatische Programme (Bots) auf das Produkt bieten und der Preis innerhalb von wenigen Sekunden hochgetrieben wird.

Zudem haben die meisten Bauteilehändler den direkten Zugriff auf Ihre Systeme gekappt. Wer also in der Vergangenheit mit seiner BOM in das System des Händlers gehen konnte und anschließend wusste, was er wann bekommen kann der sieht jetzt nichts mehr. Das ist so als wenn Sie im fensterlosen Lager etwas holen wollen und jemand schaltet das Licht aus. Damit wird die Planung der Liefertermine unmöglich. Manche EMS haben mittlerweile nur noch eine Sichtbarkeit in Bezug auf Umsätze und Lieferungen von vier Wochen.

Interessanterweise entwickelt sich zudem eine Strömung, die schon 2018 bei den Allokationsproblemen zu beobachten war. Große Bauteilehersteller überlegen, wofür sie überhaupt noch einen Zwischenhändler benötigen und ob es für sie nicht besser (und gewinnbringender) wäre ihre Produkte direkt zu vermarkten und den Zwischenhändler auszuschalten.

Die EMS Unternehmen sprechen mit ihren Kunden mit dem Ziel Rahmenverträge bis Ende 2023 abzuschließen. Gleichzeitig werden Preise erhöht und entsprechende Vereinbarungen so verändert, dass bei weiteren Preiserhöhungen der Bauteile die zusätzlichen Kosten weitergegeben werden können und es eine Abnahmegarantie gibt für Bauteile die im Rahmen des Rahmenvertrags disponiert wurden. Teilweise werden auch Anzahlungen vereinbart.

Was so selbstverständlich klingt, ist teilweise aber nicht konsequent umgesetzt. Zu zögerlich werden Preise erhöht, einzelne lassen sich noch immer von Einkäufern einschüchtern, die behaupten sie könnten anderswo billiger einkaufen. Wer den Bestand seines Unternehmens riskieren will, der lässt dies zu, alle anderen lassen sich von solch dummen Argumenten nicht mehr einschüchtern.

So unwahrscheinlich es klingt, aber hier hat auch die Digitalisierung einen Einfluss. Im Rahmen der Einführung des EMS SCOUT (www.ems-scout.de) hatten wir darauf hingewiesen, dass 50% der Einkäufer heute komplett digital leben und arbeiten und dementsprechend bei der Vorauswahl eines Produktionspartners für Elektronik

(EMS) eine digitale Hilfestellung benötigen. Aber es gibt einen zweiten Effekt, der leider nicht unbedingt positiv ist. Manche Einkäufer glauben auch, dass die Beschaffung für elektronische Bauteile genau so einfach ist, wie wenn man etwas bei Ebay oder Amazon bestellt. Dementsprechend muss es nicht verwundern, wenn man in der Automobilindustrie mal gerade die Bauprogramme total runterfährt und glaubt es sei problemlos möglich dann anschließend per Knopfdruck alles wieder hochzufahren. Da könnte die Teilnahme an einer Veranstaltung wie dem EMS-Tag (www.ems-tag.de) eine lehrreiche Schulung für so manche Disponenten und Einkäufer sein.

Welchen Einfluss haben die derzeitigen Entwicklungen auf die EMS Industrie in Europa? In der Europäischen EMS Jahresstatistik von in4ma in Kooperation mit IPC hatte die Analyse der Deutschen EMS Unternehmen gezeigt, dass je kleiner das Unternehmen, umso größer der Umsatzverlust 2020. Die Abfrage der Prognose kann mehrheitlich so zusammengefasst werden, dass fast alle Unternehmen davon ausgingen in 2021 wieder Umsätze auf dem Niveau von 2019 zu erzielen und dann ab 2022 wieder sehr gute (meist zweistellige) Zuwächse zu haben.

Schon mit dem 70-seitigen Analysebericht hatte in4ma darauf hingewiesen, dass diese Annahme aus unserer Sicht nicht korrekt sei. Dies müssen wir mittlerweile nicht nur wiederholen, wir werden sogar unsere Prognose der Europäischen EMS Umsätze nach weiteren Analysen innerhalb der nächsten vier Wochen nach unten korrigieren (Firmen, die an der Europa EMS Jahresstatistik nicht teilgenommen haben können den Bericht bei in4ma käuflich erwerben). Dabei darf man sich nicht durch Pressemeldungen mancher Verbände irritieren lassen, die vom Aufschwung reden, weil die Auftragseingänge massiv nach oben gegangen sind. Wenn die Industrie merkt, dass sie zur Versorgungssicherheit längerfristig planen und damit auch bestellen muss, dann gehen die Auftragseingänge massiv nach oben. Wenn dann aber aufgrund eines fehlenden Teils andere dazu gehörende Bauteile im Liefertermin nach hinten verschoben werden, dann steigen die Umsätze nicht und können teilweise sogar rückläufig sein. In dem Fall wird dann ein toller Book-to-Bill Faktor aufgezeigt, der überhaupt kein Grund zum Jubeln ist bzw. zu der Aussage verleiten sollte, die Industrie ginge aufwärts.

Weiterhin bekräftigen wir auch nochmals die Aussage, dass die Anzahl der EMS Anbieter in den nächsten 10 Jahren um 30% sinken wird. Bereits jetzt haben in den letzten 24 Monaten 71 EMS Anbieter den Markt verlassen. Dabei sind nicht die Firmen mitgezählt, die von einem anderen EMS Unternehmen aufgekauft wurden. Alleine in den letzten fünf Monaten hat die Anzahl der Zusammenschlüsse massiv zugenommen: z.B. VDL kaufte tbp electronics, Katek SE kaufte Leesys, Turck Duotec kaufte ml&s, Connect Group kaufte IKOR und Sero kaufte Solid Semecs. Bei den Insolvenzen wird es vermutlich primär kleinere EMS treffen, die bereits in der Vergangenheit über eine zu geringe Eigenkapitalbasis verfügten, kaum finanzielle Reserven haben, jetzt gezwungen sind Lagerbestände aufzubauen um lieferfähig zu bleiben und parallel zu zögerlich sind Preiserhöhungen durchzusetzen.

Die EMS Industrie in Europa, die derzeit knapp 10% des globalen Produktionsvolumens erzielt, bleibt also turbulent und spannend.

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